Tödliche Falle Schüttgut

Versunken, verschüttet, erstickt: 4 Schüttgut-Unfälle mit tödlichem Ausgang

Schüttgüter wie Getreide, Schrote, Grieße und Mehle werden immer wieder zur tödlichen Falle. Die bgn bekommt mit erschreckender Regelmäßigkeit Fälle auf den Tisch, bei denen die Gefahr des Versinkens teilweise komplett unterschätzt wird.

von Jörg Bergmann | aus Akzente 12

Plötzlich gab die Oberfläche nach und Peter L. versank bis zu den Knien im Getreide. Panik erfasste ihn. Er versuchte, wieder festen Grund unter die Füße zu bekommen. Doch der Trichter unter ihm wurde jetzt schnell immer größer. Peter L. sank immer tiefer ins Getreide ein. Verzweifelt schrie er um Hilfe. Er steckte jetzt schon bis zum Gürtel im Getreide ...
Was sich wie eine Szene aus einem Horrorfilm liest, hat sich tatsächlich so zugetragen: bei einem tödlichen Unfall in einer Mühle. Und ganz ähnlich bei einem tödlichen Unfall in einem Kraftfutterwerk. Und bei einem tödlichen Unfall in einer Mälzerei. Was läuft hier immer wieder falsch?

Fall 1: Keine Chance – Standfläche wird plötzlich zum Trichter
Der Betrieb lagerte Nassmais im Silo ein. Wenn er zur Verarbeitung aus dem Silo abgezogen wurde, musste er erst über einen Trockner laufen. Es war in dem Betrieb üblich, bereits während des Entnahmevorgangs die verschmutzten Silo-Innenwände zu reinigen. So stieg bei Beginn der Entnahme ein Mitarbeiter in das Silo ein und stellte sich auf das Schüttgut. Von dort aus reinigte er die Wände umlaufend mit einer Maurerkelle. Die kontinuierlich absinkende Schüttgut-Oberfläche diente ihm als „Aufzugsplattform“. Bis sich die vermeintliche Plattform in einen tödlichen Trichter verwandelte – bedingt durch das schnelle Abziehen des Maises. Der Mitarbeiter sank schnell immer tiefer ein und wurde durch das auf seinen Brustkorb drückende Schüttgut erstickt. Ein Kollege hatte noch versucht, den Versinkenden zu befreien, was ihm nicht gelang.

Unfallursachen
Hier wurde alles falsch gemacht:

Das tragische Ende war fast vorprogrammiert.

Fall 2: Verschüttet – Gefahr des Versinkens war nicht bewusst
In dem Kraftfutterwerk wird mit einem ferngesteuerten Saugrüssel Rapsschrot aus dem Laderaum eines Frachtschiffs entladen. Gegen Ende des Entladevorgangs, wenn der Laderaumboden des Schiffs gut zu sehen ist, kommt ein Kompaktlader zum Einsatz. Damit wird das restliche Schüttgut zusammengeschoben, um dann ebenfalls abgesaugt zu werden.
An einem solchen Entladetag war ein Mitarbeiter über die Ladebordwand des Schiffs geklettert und ungesichert auf das Schüttgut gestiegen. Warum er das tat, ließ sich nicht mehr klären. Er war in einen Schütttrichter gerutscht und verschüttet worden. Keiner hatte das Unglück beobachtet.

Unfallursache(n)
Die wesentliche Unfallursache ist das unerklärliche vorschriftswidrige Verhalten des Mitarbeiters. Unfallbegünstigend kommt hinzu, dass er allein arbeitete. So bestand keine Möglichkeit zur Sicherung oder Rettung. Der Mitarbeiter hatte die Gefährlichkeit des Schüttguts völlig falsch eingeschätzt. Die Gefahr des Versinkens im Schüttgut war ihm wohl nicht bewusst.

Fall 3: Versunken und erstickt – Rettungsgurt bietet keine Sicherheit
In der Mälzerei gab es in einer Zwickelzelle des Malzsilos eine Stauung. Mit einer Siloeinfahreinrichtung fuhr ein Mitarbeiter in das Silo ein: Dort versuchte er die Stauung mit einer Stahlstange zu beseitigen. Vom Sitz der Einfahreinrichtung aus war das sehr mühsam. Deshalb verließ er den Sitz und trat auf das Schüttgut. Er hatte vor dem Einfahren einen Rettungsgurt angelegt, dessen Sicherungsseil der Aufsichtführende und zwei Helfer an der Befahröffnung festhielten. Auf dem Schüttgut stehend brach er plötzlich ein. Den Sicherungsposten gelang es nicht, den Versinkenden aus dem Malz herauszuziehen. Er hatte keine Chance und erstickte, als das Schüttgut in seine Luftröhre gelangte.

Unfallursache
Hier war man scheinbar richtig vorgegangen: Man benutzte eine geprüfte Siloeinfahreinrichtung und mehrere Sicherungsposten waren vor Ort. Die maßgebliche Unfallursache war auch hier die Fehleinschätzung der tatsächlichen Risiken. Der Getötete hatte fälschlicherweise darauf vertraut, dass die Malzschüttung tragfähig sein würde. Und er hatte geglaubt, dass seine Kollegen ihn im Fall der Fälle mit Hilfe des Rettungsgurts aus dem Schüttgut herausziehen könnten. Fatale Irrtümer, wie man jetzt weiß.

Besondere Risiken, besondere Maßnahmen
Wie aber kann ein Betrieb den Risiken beim Umgang mit Schüttgut angemessen begegnen?

Notwendige Siloeinstiege verringern
Zuerst muss der Betrieb die Notwendigkeit, in Silos und Lagerbereiche einsteigen zu müssen, so weit wie möglich verringern. Die Störungsbeseitigung in Silos kostet Zeit, bindet Personal und sie ist, wie deutlich wurde, eine mit hohem Gefährdungspotenzial verbundene Tätigkeit. Maßnahmen, die Störungen vermeiden, tragen somit gleichermaßen zur effizienten Betriebsführung, zur Unfallverhütung und auch zur Produktqualität bei. Zu diesen Maßnahmen gehört:

Gefährdungsbeurteilung unbedingt notwendig
Und was ist zu beachten, wenn doch ins Silo eingefahren werden muss? Entscheidend ist, bevor die Arbeiten beginnen, sich über die möglichen Gefährdungen und die erforderlichen Schutzmaßnahmen Gedanken zu machen. In der Sprache der Vorschriften heißt das: eine Gefährdungsbeurteilung ist durchzuführen. Eine gute Hilfestellung gibt die BGR 117-1 (siehe unten). Darin sind technische, organisatorische und persönliche Schutzmaßnahmen für diese Tätigkeiten beschrieben. In die Gefährdungsbeurteilung müssen jedoch auch immer die Kenntnisse, Erfahrungen und der Sachverstand der Verantwortlichen des Betriebes einfließen.
Die Ergebnisse der Beurteilung werden dann beim Ausstellen der Befahrerlaubnis und beim Erstellen einer Betriebsanweisung berücksichtigt und auch bei der Unterweisung der Mitarbeiter durchgesprochen. Die festgelegten Maßnahmen zielen nämlich auch darauf ab, möglicher Gedankenlosigkeit, Betriebsblindheit und der individuellen Fehleinschätzung von Risiken entgegenzuwirken.

Aufsichtführender und Sicherungsposten
Vor dem Beginn der Arbeiten ist ein Aufsichtführender zu benennen. Dabei handelt es sich um eine zuverlässige, mit den Arbeiten vertraute Person, die weisungsbefugt ist. Üblicherweise stellt der Aufsichtführende die Befahrerlaubnis aus und weist die Beschäftigten vor Ort ein. Der Aufsichtführende muss sich nicht ständig in der Nähe der Arbeiten aufhalten, aber er muss kurzfristig verfügbar sein.
Die Überwachung des einfahrenden Mitarbeiters obliegt einem Sicherungsposten. Er muss mit dem im Silo arbeitenden Kollegen ständig Verbindung halten. In der Regel reicht Sichtkontakt. Ist das nicht möglich, dann müssen Hilfsmittel wie z. B. eine zuverlässige Sprechverbindung benutzt werden. Der Sicherungsposten muss in jedem Fall mit den festgelegten Notfall- und Rettungsmaßnahmen vertraut sein.

Die Regeln des Einfahrens
Bevor ein Mitarbeiter ins Silo einfährt, müssen die Füll- und Entnahmeeinrichtungen abgestellt und gegen unbeabsichtigtes bzw. unbefugtes Ingangsetzen gesichert werden. Für das Einfahren selbst wird eine Siloeinfahreinrichtung verwendet (Einzelheiten hierzu in der BGR 159, siehe unten). Die Einfahreinrichtung dient nicht nur dazu, ins Innere des Silos zu gelangen, sondern auch der Sicherung gegen Versinken. Sollte der Mitarbeiter ins Schüttgut einsinken, kann er nur mit einer solchen Siloeinfahreinrichtung befreit werden.
Nicht geeignet sind dagegen Schutzausrüstungen zum Retten, wie z. B. Rettungsgurte in Verbindung mit einer Rettungswinde, weil sie nicht für die auftretenden Kräfte ausgelegt sind. Denn der Druck des Schüttguts auf die eingesunkene Person ist gewaltig, selbst wenn sie nur teilweise, etwa bis zu den Knien, versinkt. Ebenso ungeeignet zum Schutz gegen Versinken sind Schutzausrüstungen gegen Absturz, wie Höhensicherungsgeräte oder mitlaufende Auffanggeräte (Steigschutzeinrichtungen). Denn sie arretieren erst bei bestimmten Fallgeschwindigkeiten, die beim Versinken aber nicht erreicht werden. Somit bleibt die Sicherung wirkungslos.
Sich ungesichert auf Schüttungen aufzuhalten, ist so weit wie möglich zu vermeiden. Das darf nur erfolgen, wenn ein Versinken definitiv ausgeschlossen ist. Dies im Einzelfall zu beurteilen, ist jedoch extrem schwierig. Selbst wenn dem Beschäftigten das Schüttgut zunächst als gut begehbare Oberfläche erscheint, ist es ein fließendes Medium, das keineswegs immer homogen und formstabil den gesamten Raum ausfüllt.
Bei der Beseitigung von Stauungen ist die Gefahr des Versinkens immer gegeben. Ebenso während oder unmittelbar nach der Entnahme von Schüttgut. Daher darf der Sitz der Siloeinfahreinrichtung dann auf gar keinen Fall verlassen werden. Lebensgefährlich ist auch, sich unterhalb anstehender oder anhaftender Schüttgüter aufzuhalten, wie der nachfolgende Unfall zeigt.

Siloeinfahreinrichtungen müssen jährlich mindestens einmal in allen Teilen auf Betriebssicherheit geprüft werden.
Siehe hierzu BGR 159 und "BG-Grundsätze für die Prüfung von hochziehbaren Personenaufnahmemitteln“ (BGG 922),
Download (pdf) über www.bgn.de, Shortlink = 1205

Fall 4: Von Schüttgut-Lawine mitgerissen
In einem Futtermittelwerk wurden Reinigungsarbeiten in einer Silozelle durchgeführt. Der Mitarbeiter wurde mit einer Siloeinfahreinrichtung in das rund 30 Meter tiefe Silo abgelassen. Als er mit einer Stange Anbackungen beseitigte, löste sich über ihm eine Schüttgut-Lawine. Sie stürzte herab und riss ihn aus dem Sitz der Einfahreinrichtung mit in die Tiefe. Der Mitarbeiter konnte nur noch tot geborgen werden.

Unfallursachen
Zwei Unfallursachen fallen spontan ins Auge. Erstens: Die Anbackungen wurden nicht, so wie es korrekt gewesen wäre, von oben her beseitigt. Zweitens: Der Sitz der Siloeinfahrwinde war mit einer ungeeigneten Absturzsicherung versehen. Ein dünner Gurt mit Karabinerverschluss konnte nicht verhindern, dass der Mitarbeiter von den Schüttgut-Trümmern aus dem Sitz geschleudert wurde.
Zumindest der zweite Punkt hätte der befähigten Person bei der wiederkehrenden Prüfung auffallen müssen und auch die Notwendigkeit einer wiederkehrenden Prüfung hätte bei der Gefährdungsbeurteilung erkannt werden müssen. Das macht nochmals die zentrale Rolle der Gefährdungsbeurteilung bei der Organisation des betrieblichen Arbeitsschutzes deutlich. Als wichtigstes Instrument zum Steuern und Lenken der Risiken trägt eine sorgfältig durchgeführte Gefährdungsbeurteilung maßgeblich dazu bei, auch komplexe Tätigkeiten wie das Arbeiten in Silos sicher zu gestalten und durchzuführen. Denn: Der Tod lauert im Schüttgut – aber mit geeigneten Maßnahmen kann man dieser Bedrohung zuverlässig und sicher begegnen.

"Behälter, Silos und enge Räume" (DGUV Regel 113-004)
"Hochziehbare Personenaufnahmemittel" (DGUV Regel 101-005)
Download (pdf) über www.bgn.de, Shortlink = 1044

 

Autor: Bergmann