Gefährdungsbeurteilung

Vom schwierigen Umgang mit dem Schlüsselwerkzeug des modernen Arbeitsschutzes

von Jörg Bergmann | aus Akzente

Gefährdungsbeurteilung Titel

Zusätzlicher bürokratischer Aufwand oder nützliches Instrument zur Risikominderung? Die Meinungen zur betrieblichen Gefährdungsbeurteilung gehen weit auseinander. Und obwohl die Gefährdungsbeurteilung schon seit 1997 Pflicht ist, haben viele Unternehmen noch Fragen zur Durchführung und Umsetzung.

Arbeitsschutz wird neu verortet: Nicht die Umsetzung einer Fülle von Detailvorschriften, sondern die Beurteilung der Arbeitsbedingungen soll Brennpunkt der betrieblichen Arbeitsschutzaktivitäten sein. So will es das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) (siehe Kasten Seite 6). Durch diesen Paradigmenwechsel ergibt sich zunächst ein erweiterter Gestaltungsspielraum für die Arbeitgeber. Damit verbunden ist aber auch eine erhöhte Verantwortung für die Ausgestaltung von Sicherheit und Gesundheitsschutz im Betrieb.

Welchen Wert haben Handlungshilfen?
Zahlreiche Handlungshilfen sind im Umlauf, um die Unternehmer bei ihrer Verpflichtung zur Gefährdungsbeurteilung zu unterstützen. Die Bandbreite reicht dabei von simplen Ankreuzlisten über Gefährdungskataloge bis hin zu komplexen EDV-Programmen. Dem Versprechen mancher Anbieter, durch Verwendung ihrer Handlungshilfe die gesetzlichen Pflichten mit einem Minimum an Aufwand erfüllen zu können, ist erfahrungsgemäß aber mit Vorsicht zu begegnen. Denn die Gefährdungsbeurteilung soll die tatsächlichen Verhältnisse im Betrieb abbilden. Sie soll alle relevanten Gefährdungen, die festgelegten Maßnahmen sowie die Maßnahmenüberprüfung umfassen. Mit einer Checkliste im Umfang eines DIN-A4-Blatts oder mit vorgefertigten Standardbeurteilungen ist das aber kaum zu machen. Umgekehrt gilt aber auch: Ein großer Stapel bedruckten Papiers ist keine Garantie für eine gute Gefährdungsbeurteilung. Wie kann sie denn nun aussehen, eine praktikable und ausreichende Gefährdungsbeurteilung? Hier ein paar Tipps und Hinweise.

BGN-Handlungshilfen: zur Gefährdungsbeurteilung: ASI 10.0 »Handlungsanleitung Betriebliche Gefährdungsbeurteilung« und weitere branchenspezifische Unterlagen. Herunterladen: www.bgn.de, Shortlink = 843

Eigentlich müssten sie alle Betriebe haben …

… die Gefährdungsbeurteilung – und das schon seit August 1997:

Stichproben zeigen aber, dass von einem flächendeckenden Vorliegen von Gefährdungsbeurteilungen in deutschen Unternehmen noch längst nicht die Rede sein kann. Und auch die Qualität der vorgefundenen Beurteilungen schwankt stark. Während staatliche Behörden und Unfallversicherungsträger sich verstärkt bemühen, die Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen weiter voranzubringen, herrscht bei den Verantwortlichen zahlreicher Betriebe noch Unsicherheit:

  • Wie kann die Gefährdungsbeurteilung genutzt werden?
  • Was muss beurteilt werden?
  • Was ist zu dokumentieren?
  • Und wie ausführlich soll die Dokumentation sein?

Die Rechtslage ist eigentlich klar:

»Der Arbeitgeber hat durch eine Beurteilung der für die Beschäftigten mit ihrer Arbeit verbundenen Gefährdung zu ermitteln, welche Maßnahmen des Arbeitsschutzes erforderlich sind« (§ 5 Abs. 1 ArbSchG).

Tipps und Hinweise für den Beginn
Wie fängt man mit einer Gefährdungsbeurteilung an? Zweckmäßigerweise verschafft man sich als Erstes einen Überblick über den eigenen Betrieb:

Hilfsmittel zur Festlegung dieser so genannten Betrachtungseinheiten sind z. B. Organigramme, Personaleinsatzpläne oder Stellenbeschreibungen. Eine gute Gefährdungsbeurteilung kann nicht am grünen Tisch entstehen. Deshalb geht der Beurteiler im nächsten Schritt vor Ort und schaut sich die einzelnen Arbeitsplätze bzw. Tätigkeiten genauer an:

Die Gefährdungsbeurteilung betrachtet alle voraussehbaren Arbeitsabläufe, also nicht nur den Normalbetrieb, sondern auch Störungsbeseitigung, Wartung, Instandhaltung, Reinigungs- oder Reparaturarbeiten. Gerade bei diesen Tätigkeiten treten oftmals besondere Unfallund Gesundheitsgefahren auf.

Die Grenze der Beurteilung ist aber dort erreicht, wo es sich um nicht voraussehbare oder hypothetische Gefährdungen handelt. Eine Bewertung der Gefährdungen beim Einsturz der Produktionshalle oder bei der Havarie von Anlagen ist z. B. nicht sinnvoll – hier greift das betriebliche Notfallmanagement.

Bei der Ermittlung der Gefährdungen können Checklisten und Gefährdungskataloge Unterstützung bieten. Die BGN bietet eine ganze Reihe von branchenspezifischen Handlungshilfen an, die auch von den staatlichen Behörden anerkannt werden. Aber die wichtigsten Hilfsmittel sind der gesunde Menschenverstand, Fachkenntnisse und eine gewisse Erfahrung im Hinblick auf Sicherheit und Gesundheitsschutz. In der Regel wird man sich bei der Beurteilung immer fachkundige Unterstützung suchen. Und natürlich wird man nicht darauf verzichten, mit den betroffenen Mitarbeitern selbst zu sprechen, um alles Wissenswerte zu Arbeitsabläufen und zur Arbeitsorganisation zu erfahren. In diesen Gesprächen lernt man auch die Sicht der Beschäftigten zu Gefährdungen und Belastungen an ihrem Arbeitsplatz kennen und kann sie angemessen berücksichtigen.

Eine oder mehrere Gefährdungsbeurteilungen? Für Verwirrung sorgt bei vielen Betrieben auch die Tatsache, dass eine Beurteilung von Gefährdungen nicht nur im Arbeitsschutzgesetz, sondern darüber hinaus in einer ganzen Reihe anderer Vorschriften gefordert wird (siehe Kasten oben). Muss der Arbeitgeber nun etwa nicht nur eine Analyse durchführen, sondern möglicherweise fünf oder sechs verschiedene Beurteilungen machen? Inmitten der großen Zahl von Vorschriften, Technischen Regeln und Handlungshilfen sieht so mancher den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.

Grundsätzlich gilt: Pro Arbeitsplatz bzw. Tätigkeit ist nur eine Gefährdungsbeurteilung erforderlich. Wenn aber einige der ermittelten Gefährdungen in speziellen Rechtsvorschriften genauer geregelt werden, müssen bei der Risikobewertung die in der jeweiligen Verordnung genannten Aspekte berücksichtigt werden, z. B.:

Diese Detailanalysen sind integraler Bestandteil der Gesamtbeurteilung des jeweiligen Arbeitsplatzes. Nur wenn alle zu treffenden Maßnahmen zentral erfasst und verfolgt werden, sind die verschiedenen Einzelaspekte von Sicherheit und Gesundheitsschutz sinnvoll vernetzt und praktisch handhabbar.

Gefährdungsbeurteilung

Gefährdungsbeurteilung ArbSchG

Die Beurteilung von Gefährdungen wird nicht nur im Arbeitsschutzgesetz, sondern darüber hinaus in einer ganzen Reihe anderer Vorschriften gefordert. Aber: Pro Arbeitsplatz/Tätigkeit ist nur eine Gefährdungsbeurteilung erforderlich.

Rangfolge bei der Maßnahmenwahl
Bei der Auswahl von Schutzmaßnahmen ist (nach § 4 ArbSchG) zunächst zu versuchen, Gefährdungen ganz zu vermeiden, indem das Arbeitssystem entsprechend gestaltet wird: z. B. Ersatz eines gefährlichen Arbeitsstoffs durch einen nicht gefährlichen Stoff; Aufstellung eines lauten Aggregats (z. B. eines Kompressors) in einem separaten Raum außerhalb des Arbeitsbereichs.

In einem weiteren Schritt sind dann kollektiv wirkende Maßnahmen zur Risikominderung umzusetzen: z. B. zusätzliche technische Schutzeinrichtungen an Maschinen, Geländer zur Absturzsicherung oder raumakustische Maßnahmen zur Lärmminderung. Hierzu zählt aber auch eine mechanische Hebehilfe, die das Heben von Lasten mit der Hand erleichtert.

Erst im dritten Schritt sind zur Minimierung der Restrisiken individuelle Schutzmaßnahmen vorzusehen. Hierzu gehören der Einsatz persönlicher Schutzausrüstung, aber auch Betriebsanweisungen, Gefahrenhinweise, Unterweisungen. Da die Wirksamkeit dieser Maßnahmen vom Wissen und Wollen der einzelnen Mitarbeiter abhängt, ist in der Gefährdungsbeurteilung bereits die Kontrolle und Lenkung dieser Maßnahmen einzuplanen.

Kriterien für Beurteilung und Dokumentation
Zum Schluß ist nochmals kritisch zu prüfen, ob die Beurteilung ausreichend und angemessen durchgeführt wurde. Kriterien hierfür findet man in der »Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation«, die im Rahmen der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) erstellt wurde. Nicht angemessen ist danach eine Beurteilung u. a. dann, wenn

Hier muss dann entsprechend nachgebessert werden.

Gefährdungsbeurteilung vor Ort

Gefährdungsbeurteilung – ein kontinuierlicher Prozess
»So, endlich sind wir mit der Gefährdungsbeurteilung fertig« – diesen erleichterten Seufzer hört man manchmal in den Betrieben. Dem ist allerdings hinzuzufügen: Mit der Gefährdungsbeurteilung ist man eigentlich nie fertig. Denn wenn sich etwas im Betrieb ändert (Umbau, neue Anlagen, neue Produktionsverfahren etc.), ist die Beurteilung auf ihre Aktualität zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen. Dies gilt genauso bei der Änderung von Vorschriften oder Grenzwerten. Und schließlich sollten Unfälle, arbeitsbedingte Erkrankungen und Schadensfälle stets Anlässe sein, die Gefährdungsbeurteilung für die betroffenen Arbeitsplätze noch einmal kritisch unter die Lupe zu nehmen. Nur wenn die Gefährdungsbeurteilung lebt, erfüllt sie auch ihre Funktion als Schlüsselwerkzeug im Arbeitsschutz.

Gerne berät Sie Ihre zuständige Aufsichtsperson bei der Erstellung der Gefährdungsbeurteilung. Fon 0621 4456-3517

Unterstützung erhalten Sie auch bei Ihrem sicherheitstechnischen und arbeitsmedizinischen Dienstleister, zum Beispiel bei dem für Sie zuständigen Kompetenzzentrum.

 

Autor: Bergmann