Mit dem Safety Car in 10 Meter Höhe


Störungsbeseitigung im TK-Hochregallager Entwicklung eines verbesserten Absturzsicherungssystems
von Thomas Real | aus Akzente

Bild: Aufstieg eines Mitarbeiters in das Regal



Der Technische Aufsichtsbeamte der BGN hatte Bedenken. Der Praxistest brachte Gewissheit: Das Absturzsicherungssystem, das für den Einstieg in das vollautomatische Tiefkühl-Hochregallager der Großbäckerei vorgesehen war, ist unbrauchbar. Jetzt steigen die Mitarbeiter mit Hilfe eines neu entwickelten Stö­rungsbeseitigungswagens in das Regalsystem ein. Eine deutliche Verbesserung des Stands der Technik.

In 10 m Höhe rollt ein schlittenartiges Gefährt über C-Profil-Schienen in die Regalgasse hinein. Vor und hinter dem Gefährt klafft die Tiefe. Auf dem Schlitten kniet ein Mann. Er trägt einen Auffanggurt, der über ein kurzes Seil am Schlitten eingehakt ist. Der Mann ist auf dem Weg, eine Störung in dem vollautomatischen TK-Hochregallager einer Großbäckerei zu beseitigen (siehe Kasten rechts unten). Die Raumtemperatur beträgt -26°C. Deshalb muss es zügig gehen. Mit dem rollenden Gefährt kommt er schnell und stö­rungsfrei voran ...
So könnte es sich abspielen – wenn in dem vollautomatischen Kanallager eine Palette gebrochen oder umgefallen ist und der Satellit des Regalförderzeuges (RFZ) festsitzt. Seitdem der Betrieb den eigens für diesen Zweck entwickelten Wagen einsetzt, läuft die Störungsbeseitigung zügig und vor allem sicherer ab. Den Praxistest hat das Gemeinschaftswerk von Betrieb, Regalhersteller, Fachausschuss »Förder- und Lagertechnik« und BGN bestanden.

 

Nach dem Aufstieg eines Mitarbeiters ins Regal zieht ein zweiter, unten in der Fahrgasse stehender Mitarbeiter den Wagen mit einem über eine Rolle geführten Seil nach oben. Dort wird der Wagen in den zu befahrenden Kanal eingesetzt (siehe Bild oben).

 

DAS TK-HOCHREGALLAGER

Das Tiefkühl-Hochregallager der Großbäckerei wird als vollautomatisches Kanallager betrieben. Ein auf dem Regalförderzeug (RFZ) befindlicher ausfahrbarer Satellit lagert die Ladeeinheiten auf so genannten C-Profilen hintereinander in die einzelnen Kanäle des Regales ein und aus. Der Satellit fährt dabei auf den unteren Schenkeln der C-Profile und setzt die Paletten auf den oberen Schenkeln ab. Nach Angabe des Herstellers kann das RFZ hierbei eine Geschwindigkeit von bis zu 12 km/h erreichen.

Der gesamte Regalbereich ist durch eine 2 m hohe Umzäunung bzw.
durch Gebäudeteile abgegrenzt. Der Zutritt ist nur durch die gesicherte Zugangstür gestattet. Hierbei findet das so genannte »Schlüsselabhängigkeitskonzept« Anwendung. Das bedeutet, der Freigabeschlüssel für die vollautomatische Steuerung und der Türschlüssel sind untrennbar
(geschweißter Ring) miteinander verbunden.

Der Bediener muss beim Betreten des gefährdeten Bereiches die Schlüssel mitnehmen. Dadurch ist gewährleistet, dass keine andere Person das RFZ für den Automatikbetrieb freigeben kann, während sich der Bediener im gefährdeten Bereich aufhält.



Berechtigte Zweifel ...
Ins Rollen kam das Ganze, als der für die Großbäckerei zuständige Technische Aufsichtsbeamte der bgn das seit Kurzem in Betrieb genommene TK-Hochregallager besichtigte. Dabei stellte er die prä­ventive Frage, wie sich denn die Mitarbeiter bei einer Störungsbeseitigung in einer Höhe von bis zu 13 Metern gegen Absturz sicherten. Nach Auskunft des Lagerleiters benutzten sie dazu ein Absturzsicherungssystem, das aus folgenden Komponenten besteht:

Der TAB hatte seine Zweifel. Aufgrund seiner speziellen Erfahrungen im Bergbau, was die Anwendung und geringe Akzeptanz von Absturzsicherungen betraf, hielt er das hier vorgehaltene Absturzsicherungssystem nicht für funktional. Er bat den Betrieb, das System in einer praxisnahen Übung zu testen. Das Team des Lagers, bestehend aus Lagerleiter und den drei Mitarbeitern, die die auftretenden Stö­rungen beseitigen, bekam folgende Aufgabe:

Bild: Mitarbeiter sitzt auf Störungsbeseitigungswagen
Der Störungsbeseitigungswagen ist eine Gemeinschaftsentwicklung von Betrieb, Regalhersteller, Fachausschuss »Förder- und Lagertechnik« und BGN.


... bestätigen sich im Praxistest
Nach 20 Minuten musste die Übung abgebrochen werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Mitarbeiter unter Benutzung der Einlegebleche und Rohrhaltehaken erst den dritten (statt 15.) Palettenstellplatz erreicht. Das immer wieder neue Anschlagen an unterschiedlichen Widerlagern braucht zu viel Zeit in dem -26°C kalten Lager. Insgesamt hat die Übung folgende Schwachstellen aufgezeigt:

Fazit: Mit den vorgesehenen Hilfsmitteln war die Störungsbeseitigung unter Berücksichtigung der notwendigen Sicherheit nicht in angemessener Zeit durchzuführen. Daher werden sie in der betrieblichen Praxis auch nicht verwendet und sind somit keine akzeptable Lösung zur Vermeidung von Absturz­unfällen. Es musste eine bessere Alternative gefunden werden.

ANFORDERUNGEN

an den Störungsbeseitigungswagen

Der Wagen muss innerhalb der Profile formschlüssig gegen Abheben gesichert sein. Insbesondere deshalb, weil der Wagen über mindestens einen Anschlagpunkt verfügen muss, an dem sich die darauf befindliche Person gegen Absturz sichern kann.

Der Wagen darf beim Verlassen der C-Profile mit dem vorderen Räderpaar nicht nach unten wegkippen können. Diese Situation könnte im Übergangsbereich zwischen Kanal und Fahrgasse des RFZ auftreten.

Der Wagen sollte ein möglichst geringes Gewicht haben.

Der Boden des Wagens muss rutschhemmend ausgeführt sein.

Der Wagen muss über eine Feststelleinrichtung verfügen, um ihn als sichere Standfläche nutzen zu können.

Der Wagen sollte auch im Falle eines Unfalls als Transportmittel für den Verletzten zum Mittelgang dienen.

 

Bild: Mitarbeiter auf Strörungsbeseitigungswagen



Lösungssuche mit Erfolg
Unter Beteiligung von Mitarbeitern und Betriebsleitung wurde die Entwicklung eines anwenderfreundlichen Absturzsicherungskonzeptes vorangetrieben. Es musste folgende Anforderungen erfüllen:

Herausgekommen ist der mittlerweile in Betrieb genommene Störungsbeseitigungswagen, für den alle Beteiligten im Vorfeld genaue Anforderungen (siehe Kasten links) erarbeitet hatten. Der schlittenartige Wagen wird vom Mittelgang aus in die C-Profile eingesetzt und per Muskelkraft bewegt. Die Abmaße des Wagens betragen 800mm x 800mm x 100 mm; sein Gewicht beträgt 18kg. Der Wagen verfügt über zwei Feststellbremsen und zwei seitlich angeschweißte Ringe, die dem Mitarbeiter ein sicheres Widerlager während der Fahrt im Kanal zur Störungsstelle bieten.
Vor allem die enorme Zeitersparnis durch das entfallende Einlegen bzw. Vorschieben der Einlegebleche in Verbindung mit dem wechselseitigen Anschlagen der Rohrhaltehaken an die Regaltraversen stellt für die Anwender bei einer Temperatur von -26°C eine enorme Erleichterung dar. Das hat dazu geführt, dass sie den Wagen uneingeschränkt akzeptieren und anwenden.

HÄNGETRAUMA

Ein Hängetrauma kann auftreten, wenn eine Person infolge eines Absturzes in einem Auffanggurt frei hängt. Es kommt dann zu einer Kreislaufstörung mit Bewusstlosigkeit und eventueller Todesfolge. Das Hängetrauma kann innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne von 6 bis 30 Minuten eintreten.

Das Hängetrauma ist eine noch viel zu wenig bekannte Gefahr. Jeder Betrieb, in dem Auffanggurte zum Einsatz kommen, muss Vorsorge zur schnellen Bergung solcher zunächst glimpflich Abgestürzten aus der hängenden Position treffen. Denn: Externe Einsatzkräfte treffen oft nicht rechtzeitig am Einsatzort ein.

Lesen Sie in der nächsten Ausgabe von akzente einen Artikel zum Thema Hängetrauma aus medizinischer Sicht.



Wenn dennoch der Auffanggurt zum Einsatz kommt
Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen lässt sich nicht ausschließen, dass ein Mitarbeiter bei der Störungsbeseitigung von seiner Standfläche abrutscht und im Auffanggurt hängen bleibt. Im Vorfeld einer geplanten Rettungsübung fand dazu ein Gespräch mit dem Leiter der Höhenrettungstruppe der Feuerwehr statt. Er wies darauf hin, dass eine im Gurt hängende Person möglichst schnell aus ihrer Zwangslage zu befreien ist, weil nach kurzer Zeit ein »Hängetrauma« entsteht . Aufgrund der im Tiefkühllager herrschenden Temperatur von -26°C ist davon auszugehen, dass sich die Zeitspanne für die Rettung eher noch verkürzt.

 

Autor: Real